VGH Fotopreis Gewinner 2025

Julius Schien: Rechtes Land

Kurz gefasst

Seit der deutschen Wiedervereinigung starben in Deutschland mehr als 200 Menschen durch rechte Gewalt. Konfrontiert mit der anhaltenden Präsenz von Rechtsextremismus in Deutschland, hat Julius Schien begonnen, alle Tatorte rechter Gewalt zu dokumentieren. Er legt mit "Rechtes Land" einen bisher einzigartigen visuellen Katalog dieser Tatorte vor. Seine fotografische Arbeit rückt die Orte, an denen die Taten stattgefunden haben, wie leere Bühnen in den Vordergrund. Die menschenleeren Großformatfotografien werden von Texten und Dokumentationsmaterialien begleitet, die die Geschichten von mittlerweile mehr als 200 Schicksalen erzählen.

1. Juli 1990. Auf einem Spaziergang in der Erfurter Innenstadt begegnet Heinz Mädel einer Gruppe von rechtsextremen Skinheads. Zwei 18-jährige Frauen lösen sich von der Gruppe und greifen ihn unvermittelt an. Als Heinz Mädel sich zu wehren versucht, schlagen sie den 58-Jährigen zu Boden und beginnen ihn mit Fußtritten zu malträtieren. Er erliegt wenige Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen. Bis heute ist er in keiner offiziellen Statistik als Todesopfer rechter Gewalt gelistet.
Am 28. Dezember 1990 wird der 17-jährige Nihat Yusufoğlu in Hachenburg von einem gleichaltrigen Neonazi durch einen gezielten Messerstich ins Herz getötet. Dem Mord gehen wochenlange Beleidigungen und Bedrohungen durch Neonazis voraus, die gegenüber der Wohnung der Familie Yusufoğlu ihren Treffpunkt hatten. Laut Staatsanwaltschaft gehörte der Täter der rechtsextremen und mittlerweile verbotenen "Taunusfront" an. Ihm sei jedoch nicht nachzuweisen, so steht es im Urteil des Gerichts, dass er "zum Zeitpunkt des Messerstichs rassistische Motive verinnerlicht hatte".
19. September 1991. Der 27-jährige Samuel Yeboah stirbt bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete in Saarlouis. Frühmorgens legt der Täter und stadtbekannte Neonazi im Erdgeschoss des Treppenhauses der Unterkunft einen Brand. Samuel Yeboah versucht durch das brennende Treppenhaus zu flüchten und erleidet dabei schwere Verletzungen, an denen er wenig später im Krankenhaus stirbt. Obwohl ein rechtsextremes Motiv von Anfang an vermutet wird, werden die Ermittlungen 1992 eingestellt. Erst 30 Jahre nach der Tat wird der Täter ermittelt und verurteilt.
Am 8. Mai 1991 wird ein Punk von 15 Rechtsradikalen bei Gifhorn angegriffen und gejagt. Der 23-jährige Matthias Knabe will sich mit einem Freund am Waldsee zum Nachtangeln treffen, als er von den Neonazis angegriffen wird. Im Laufe der Attacke hetzen sie Knabe über eine Leitplanke auf die angrenzende Bundesstraße 4. Dort wird er von einem Auto erfasst und erleidet schwere Hirnverletzungen, an denen er knapp ein Jahr später, am 4. März 1992, stirbt.
13. November 1992. Der 53 Jahre alte Karl-Hans Rohn wird in einer Kneipe in Wuppertal von zwei Rechtsextremisten geschlagen, angezündet und erstickt. Vor der tödlichen Attacke wurde der 53-Jährige vom Wirt und den zwei anwesenden jungen Rechtsextremisten antisemitisch beschimpft, da angenommen wurde, er sei jüdischen Glaubens. Laut Staatsanwaltschaft habe der Wirt die beiden Neonazis darüber hinaus immer wieder mit antisemitischen Hetztiraden aufgefordert, Rohn zu attackieren.
Karl Sidon, Parkwächter im Schlosspark Arnstadt, wird am 18. Januar 1993 von fünf jungen Neonazis brutal verprügelt und getötet. Die Gruppe im Alter von 11 bis 16 Jahren beschädigte zuvor im Schlosspark ein Gebäude. Als Karl Sidon das bemerkt, geht er ihnen nach und ermahnt sie. Daraufhin gehen die Jugendlichen auf Sidon los und schlagen auf ihn ein, bis er bewusstlos am Boden liegen bleibt. Im Anschluss schleifen sie ihn auf eine angrenzende, viel befahrene Straße, wo er schließlich von mehreren Autos überfahren wird. Noch am selben Abend erliegt Karl Sidon seinen Verletzungen.
14. Oktober 1994. Alexandra Rousi wird von ihrem Nachbarn in Paderborn getötet. Sie stirbt bei einem Brand, der aus rassistischen Motiven gelegt wurde. Dem Brandanschlag gehen monatelange rassistische Drohungen und Beleidigungen voraus. Der Täter wohnt im Erdgeschoss des Zweifamilienhauses und übergießt das gemeinsame Treppenhaus mit Benzin. Als Alexandra ihn aufzuhalten versucht, zündet er, während er weiterhin ausländerfeindliche Beleidigungen von sich gibt, ein Streichholz an. Sowohl Alexandra Rousi als auch der Täter gehen in Flammen auf – Rousi stirbt noch im Treppenhaus. Auch 30 Jahre nach der Tat wird der Fall offiziell nicht als rechte Gewalttat anerkannt.
18. Januar 1996. Bei einem Brandanschlag auf ein Asylheim in Lübeck sterben zehn Menschen (drei Erwachsene und sieben Minderjährige). Schnell konzentrieren sich die Ermittlungen auf einen Bewohner des Hauses. Dieser wird später freigesprochen. Vier Neonazis, die sich in der Tatnacht am Tatort befanden, Brandspuren am Körper hatten und die Tat zum Teil mehrfach gestanden, werden hingegen nie angeklagt. Bis heute ist der Fall juristisch nicht geklärt.
8. Mai 1996. Unter homophoben Parolen wird Bernd Grigol nachts in Leipzig-Wahren auf offener Straße von drei Neonazis attackiert und niedergestochen. Sie treten auf Grigol ein, werfen einen Ziegelstein auf seinen Kopf, stopfen ihm Sand in den Mund und stechen 36-mal mit einem Messer auf ihn ein. Den leblosen Körper werfen sie in einen gefluteten Steinbruch außerhalb von Leipzig. Bernd Grigol erleidet einen Genickbruch und stirbt.
8. Februar 1997. Frank Böttcher wird nach einem Besuch im Klinikum Magdeburg an der Straßenbahnhaltestelle von einer Gruppe Neonazis überfallen. Sie verprügeln und treten den 17-Jährigen, bis schließlich der gleichaltrige Haupttäter ein Messer zückt und auf Böttcher einsticht. Die Neonazis treten noch unzählige Male auf seinen Kopf ein und lassen ihn an der Haltestelle liegen. Frank Böttcher erleidet sieben Stichwunden und einen Schädelbasisbruch – wenig später stirbt er im Krankenhaus. Im Juni 1997 wird der Haupttäter, der zum Zeitpunkt der Tat noch minderjährig war, zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt.
29. Dezember 1999. In Halle treffen drei Neonazis auf den geistig beeinträchtigten Jörg Danek in der S-Bahn. Sie beginnen ihn zu malträtieren und treten mit ihren Springerstiefeln in sein Gesicht. An der Endhaltestelle zerren die Täter ihn auf den Bahnsteig und traktieren ihn weiter. Schließlich zertreten sie ihm das Gesicht und lassen ihn dort liegen. Jörg Danek stirbt im Krankenhaus. Im Juni 2000 kommt das Landgericht Halle zu dem Schluss, dass die Männer an Jörg Danek ihren "Frust über eine vorangegangene Auseinandersetzung mit Wachleuten auslassen wollten". Ein rechtsextremes Motiv wird erst im Jahr 2012 anerkannt.
In der Nacht zum 4. November 2000 stirbt Belaid Baylal an multiplem Organversagen. Es sind die Spätfolgen eines rassistischen Angriffs, der sich im Mai 1993 ereignete. Damals wird der Asylbewerber von zwei Rechtsextremisten in einer Gaststätte in Bad Belzig bei Berlin beschimpft und verprügelt. Die beiden Rechtsextremen ziehen Baylal vom Stuhl und treten auf ihn ein. Er erleidet schwere innere Verletzungen und wird ins Krankenhaus eingeliefert. Ärzt:innen bestätigen, dass der sieben Jahre spätere Tod eine Spätfolge des Angriffs ist.
İsmail Yaşar betreibt einen beliebten Imbiss in der Südstadt Nürnbergs. Die Täter der rechtsextremen Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) fahren am Morgen des 9. Juni 2005 mit Fahrrädern in die Nähe des Imbisses, betreten diesen und ermorden İsmail Yaşar mit fünf Schüssen in den Kopf und Oberkörper. Er stirbt noch am Tatort. Während der Mordserie des NSU ermittelt die Polizei fast ausschließlich im Umfeld der Opfer, nicht aber in rechtsextremen Kreisen, bis sich der "NSU" 2011 schließlich selbst enttarnt.
31. Oktober 2012. Die 44-jährige Sexworkerin Andrea B. begleitet den damals 25-jährigen Täter in seine Wohnung im Süden Hannovers. Dort angekommen, macht sie sich über Nazisymbole in der Wohnung und die rechtsextreme Gesinnung des 25-Jährigen lustig. Daraufhin tötet der Täter Andrea B. auf brutale Weise mit einer Machete. Die Leiche verpackt er in Plastiksäcke und wirft diese in den Maschsee. Die sterblichen Überreste werden am Morgen von Passant:innen entdeckt. Eine rechte Gesinnung wird nicht anerkannt.
Am 17. April 2018 wird das Treppenhaus eines Wohnhauses in Wiebelskirchen im Saarland aus rassistischen Motiven in Brand gesteckt. Das Gebäude, in dem mehrere syrische Geflüchtete mit ihren Kindern leben, steht schnell in Flammen. Die Feuerwehr rettet elf Menschen, einige mit schweren Rauchvergiftungen. Philipp W. wohnt im Dachgeschoss und verbrennt in seiner Wohnung. Die beiden Täter gestehen vor Gericht, die Tat aus Hass auf Ausländer begangen zu haben.
Index zur Verortung der behandelten Tatorte auf der Deutschlandkarte. Hervorgehoben sind die hier thematisierten Schicksale, sämtliche weiteren Tatorte sind zusätzlich eingezeichnet.

Julius Schien

Julius Schien (*1992) studiert "Visual Journalism and Documentary Photography" in Hannover, wo er auch lebt und arbeitet. In seiner Fotografie sucht er vor allem nach Antworten auf die Frage, was es bedeutet, sich im 21. Jahrhundert mit dem politischen Erbe Deutschlands und der rechten Kontinuität des Landes auseinanderzusetzen. Dabei zielt er darauf ab, längst vergessene Geschichten rechter Gewalt, die unter der Oberfläche der Alltäglichkeit liegen, in nüchtern anmutenden Landschafts- und Stadtportraits herauszuarbeiten. Seine Arbeiten entstehen auf analogem Großformat. Julius Schien ist ausgewählter Künstler der Triennale der Photographie in Hamburg für die europäische Fotograf*innen-Plattform FUTURES.

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